Wenn Kinder häufig auf Zehenspitzen gehen, handelt es sich nicht einfach um eine motorische Eigenheit, sondern um eine tiefgreifende körperliche Reaktion auf inneren Stress, die sich schnell etablieren und zu einer schwer zu überwindenden Gewohnheit werden kann.

Zehenspitzengang als körperlicher Schutzmechanismus

Der sogenannte Sehnenkontrollreflex, ein in uns allen angelegter archaischer Schutz- und Überlebensmechanismus, wird normalerweise nur kurzfristig aktiviert: etwa in Situationen von Stress, Gefahr oder Unsicherheit. Dieser Reflex bereitet den Körper auf Kampf oder Flucht vor, d.h. standfest zu bleiben oder sich gegen eine Gefahr wehren, also bereit zu sein, wegrennen zu können oder kämpfen zu müssen.

Dabei verkürzen sich die Wadenmuskeln, die Knie versteifen sich, die Bewegung verlagert sich auf die Zehenspitzen, die Achillessehne zieht sich zusammen und ihre Gegenspieler, die Schienbeinmuskeln, entspannen sich. Dadurch muss der restliche Körper sich angleichen, d.h. Rücken- und Nackenmuskulatur müssen mitanspannen, um das Gleichgewicht zu halten. Dieser Reflex schützt uns eigentlich vor Überdehnung und Verletzung, doch bei manchen Kindern bleibt dieser Zustand dauerhaft aktiv und wird zu einer motorischen Gewohnheit. Der Körper befindet sich sozusagen dauerhaft im „Alarmmodus“, was zu einem Zustand anhaltender Anspannung und Unbeweglichkeit führt und damit auch den natürlichen Fluss der Rückenmarksflüssigkeit im Gehirn einschränkt.

Tim (4 Jahre) ist seit dem Laufenlernen fast ausschließlich auf Zehenspitzen unterwegs. Eine physiotherapeutische Behandlung zeigte wenig nachhaltige Wirkung. Selbst nach einem operativen Eingriff zur Dehnung der Achillessehne stellte sich bereits wenige Wochen später der alte Bewegungsstil wieder ein. Erst im Rahmen einer integrativen körperorientierten Entwicklungsbegleitung wurde deutlich: Tim lebt innerlich in einem Zustand chronischer Anspannung.

Warum Kinder „auf Zehenspitzen“ leben

Viele Kinder, die dauerhaft auf den Zehen gehen, leben in einem inneren Anspannungszustand, den sie durch die starke Muskelspannung unbewusst ausgleichen.

Die permanente Muskelspannung und die starke sensorische Rückmeldung aus Waden und Füßen gibt ihnen ein sensorisches Gefühl von Stabilität und Kontrolle, das sie jederzeit selber herstellen können, und ihnen dabei hilft, sich selbst als fest und solide wahrzunehmen und zu spüren, oder überhaupt ein Körpergefühl zu entwickeln.

Gleichzeitig zeigt sich bei diesen Kindern häufig eine verkürzte Wadenmuskulatur, eine auffällig hohe Grundspannung im gesamten Körper und nicht selten auch eine verlangsamte oder atypische Sprachentwicklung. Der Fokus dieser Kinder bleibt oft körperintern gerichtet, während auditive oder soziale Reize von außen weniger beachtet werden.

Auch nach Operationen, die den Zehengang physiologisch unmöglich machen sollen, zeigt sich häufig, dass das Kind kurz nach der OP wieder zum gewohnten Zehenspitzengang zurückkehrt, weil dieser zu einem Teil ihrer Identität und ihres inneren Sicherheitsgefühls geworden ist.

Sprachentwicklung und Körperspannung – ein unterschätzter Zusammenhang

Der Sehnenkontrollreflex beeinflusst nicht nur das Bewegungsverhalten, sondern steht häufig auch im Zusammenhang mit verzögerter Sprachentwicklung. Unter ständiger Muskelspannung zirkuliert die Rückenmarksflüssigkeit eingeschränkt, das Gehirn ist auf „Überleben“ statt auf Kommunikation programmiert.

Erst wenn man diese komplexe Situation ganzheitlich und mit Übungen angeht, die die neuronale Aufmerksamkeit bewusst vom Überlebensreflex auf Entspannungsübungen für die Wadenmuskeln und den gesamten Rücken verlagern, so dass sich diese Spannung reduziert, kann sich auch die Sprache entfalten und lassen sich bei manchen Kindern schon in kurzer Zeit beide Probleme lösen.

Zehenspitzengang ist also nicht isoliert zu betrachten, sondern als sekundäre Schutzreaktion auf frühkindlichen Stress, sensomotorische Unreife oder emotionale Überforderung. Eine ganzheitliche Begleitung, die Körperarbeit, Bindungsstärkung und neurologische Integration verbindet, kann betroffenen Kindern helfen, aus dem inneren Daueralarm herauszufinden, und sich so neuen Spiel-, Lern- und Beziehungserfahrungen öffnen.

Wenn Entwicklung mehr Begleitung braucht

Eine einfache Übung besteht darin, dem Kind im Liegen sanften Druck auf die Fußsohlen zu geben. Dadurch wird die Wade entlastet, das Kind kann sich spüren und dabei erste Schritte aus dem ständigen Alarmmodus heraus machen.

Tim war drei Jahre alt, als seine Mutter begann, diese Übung mit ihm zu machen. Er ging seit dem Laufenlernen fast ausschließlich auf Zehenspitzen, sprach kaum, war schreckhaft und schien in sich gekehrt. „Zuerst war er sehr skeptisch und hat die Berührung an den Füßen nicht zugelassen“, erzählt seine Mutter. „Ich habe dann jeden Abend, wenn er schon im Bett lag und etwas ruhiger war, ganz sanft meine Hände auf seine Fußsohlen gelegt. Anfangs nur kurz, ein paar Sekunden lang. Irgendwann hat er begonnen, gegen meine Hände zu drücken. Das war wie ein kleines Spiel zwischen uns.“

Mit der Zeit wurde Tim entspannter. Seine Mutter berichtet: „Nach ein paar Wochen konnte er beim Anziehen auf beiden Füßen stehen, ohne sofort in den Zehengang zu wechseln. Und er fing an, einzelne Wörter zu sagen.“

Die Kombination aus körperlichem Kontakt, Druckregulation und emotionaler Sicherheit half ihm, langsam aus seinem inneren Schutzmodus herauszutreten.

 

Eine einfache, aber wirkungsvolle Übung: Druck über die Fußsohlen

  1. Das Kind liegt entspannt auf dem Rücken, oder sitzt bequem.
  2. Ein Erwachsener legt beide Hände auf die Fußsohlen des Kindes und
  3. drückt den Fußballen mit sanftem Druck nach oben, sodass die Wade sich bewusst entspannen kann.
  4. Daraus kann ein kleines Kraftspiel entstehen: Das Kind drückt aktiv gegen die Hände, – was oft zusätzlich lösend wirken kann.

Diese Übung hat bei manchen Kindern nicht nur den Zehenspitzengang reduziert, sondern auch zu ersten Fortschritten in der Sprachentwicklung geführt.

Fazit: Stress erkennen – nicht nur die Füße sehen

Zehenspitzengang ist nicht nur ein motorisches Phänomen, sondern oft ein Hinweis auf tieferliegende neurologische und emotionale Schutzreaktionen. Eine ganzheitliche Begleitung, die sowohl Körperarbeit (z. B. mit Brain Gym) als auch Beziehungsarbeit umfasst, kann Kindern helfen, sich zu entspannen, loszulassen – und neue Wege in Sprache, Bewegung und sozialem Lernen zu gehen. 

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