Kleine Kinder mit autistisch-ähnlichen Verhaltensweisen oder der Verdachtsdiagnose Autismus sind momentan in der ganzen Welt, ein «brennendes» Thema, denn in den letzten Jahren nehmen die Zahlen solcher Kinder auf beängstigende Weise rapide zu.

Auch pädagogische und therapeutische Ansätze, wie mit diesen Kindern und ihren Verhaltensweisen am besten umzugehen ist, gibt es viele. Diese lassen sich grob gesagt in 3 Kategorien einteilen:

Verhaltens-orientierte behavioristische Ansätze, deren Hauptstrategie die operante Konditionierung ist um anhand vorgefaßter Programme gewünschtes angepasstes Verhalten zu trainieren (z.B. ABA/Applied Behaviour Analysis)

  1. Biologisch-orientierte Maßnahmen, die die Symptome durch Ernährung, Ernährungsergänzungsmittel und pharmakologische Mittel zu beeinflussen versuchen
  2. Beziehungs-orientierte Ansätze, einschließlich ‚von Eltern implementierte Ansätze‘, deren Ziel es ist auf non-direktive und Kind-zentrierte Weise, die Kerndefizite zu behandeln und Entwicklungsrückstände aufzuholen, die den Symptomen zugrundeliegen

Die Hauptschwierigkeiten von Kindern mit einer Autismus Spektrum Störung (ASS) sind bekanntlich im Bereich von Kommunikation und Beziehungen, z.B.

  1. reziproke emotionale Nähe herzustellen
  2. Kommunikation und erste Worte bewußt und emotional sinnvoll zu benutzen
  3. einen dauerhaften emotionalen Austausch aufrechtzuerhalten
  4. mangelndes spontanes Explorieren und kreatives Symbolspiel
  5. hartnäckiger Fokus auf Details von Gegenständen als Dauerbeschäftigung
  6. oft zusätzlich sekundäre Symptome wie Perseverationen, sensorische Regulations- und Verarbeitungsprobleme, herausfordernde oder stereotype Verhaltensweisen

Man könnte meinen, daß bei primären Kommunikations- und Beziehungsproblemen eines Kindes beziehungs-orientierte Ansätze, die auch Eltern und Familie miteinbeziehen, offensichtlich wären, – egal was das Kind isst, an Nahrungsergänzungsmitteln zu sich nimmt oder an Verhaltenstraining erhält. Stattdessen gelten Verhaltenstrainingsmethoden wie ABA als angeblich einzig anerkannte Methode, obwohl de facto

  1. die Effektivität von ABA keineswegs eindeutig nachgewiesen ist
  2. die eigentlichen Beziehungschwierigkeiten des Kindes für ABA nicht Behandlungsziel sind

 Jedoch hat Verhaltenstraining seit Jahren die Überhand. Denn während die verhaltensorientierten Ansätze traditionell als evidenz-basiert gelten,  ist die Tatsache, daß auch die beziehungs-orientierten Ansätze seit Jahren zu den etablierten evidenz-basierten Methoden gehören, generell noch nicht bekannt. Hierzu gehört auch der aus den USA stammende DIRFloortime Ansatz, der in letzter Zeit auch im deutsch-sprachigen Raum zunehmend Anwendung in Familien und Einrichtungen findet, die Alternativen zu den traditionellen behaviourstischen Trainingsmethoden suchen.

 Die Heilpädagogische Früherziehung ist oftmals eine der ersten Fachbereiche, die bei solchen Entwicklungsverzögerungen, Kommunikations- und Verhaltensschwierigkeiten mit Kind und Familie arbeiten und häufig sogar eine augesprochene Verbesserung der problematischen Aspekte bewirken können, – oft lange bevor ein diagnostischer Prozess beginnt oder eine Diagnose feststeht.

Warum lassen sich autistisch-ähnliche Verhaltensweisen durch heilpädagogische oder ähnliche Interventionen oft massiv verbessern, so daß es manchmal gar nicht zu einer Diagnose kommt?

 Da der Fokus moderner Heilpädagogen nicht die Behinderung oder Diagnose ist, sondern mit beziehungs-orientiertem Blick das Kind als ganzen Menschen mit allen seinen Fähigkeiten, Problemen und Ressourcen und in seinem Familienkontext zu sehen, ist es nicht verwunderlich, daß sich immer mehr Heilpädagogen für den beziehungs-orientierten DIRFloortime Ansatz interessieren, der ihnen eine seit fast 50 Jahren erprobte schlüssige und praktisch-anwendbare Theorie bietet.

Der Glanz in den Augen des Kindes

DIR bezeichnet ein individualisiertes beziehungs-orientiertes Entwicklungsmodell (DIR = Developmental – Individual-difference – Relationship-based) mit Floortime als dessen praktische Anwendung und dem Ziel, emotional stimmige Austauschsituationen mit dem Kind herzustellen und unzureichend entwickelte funktionale emotionale Fähigkeiten zu fördern bzw nachzuholen. Der DIRFloortime Ansatz ist ein universales ganzheitliches und ressourcen-orientiertes Entwicklungsmodell für die sozio-emotionale Entwicklung, das uns hilft, auch Kinder mit autistisch-ähnlichen und autistischen Verhaltensweisen neu zu verstehen und ganzheitlich zu behandeln. Das DIR Modell stellt die Individualität eines jeden Kindes in den Vordergrund und bezieht die Eltern als primäre Bezugspersonen und zentrale Partner in die Behandlung mit ein. Denn wenn Eltern mit ihrem Kind jeden Tag therapeutisch hilfreich kommunizieren ist allen geholfen: dem Kind mit seiner Entwicklung, den Eltern, die hierüber besorgt oder verzweifelt sind, – und den öffentlichen Finanzen.

Die Ziele des DIR-Ansatzes sind nicht vorrangig „Autismus-spezifisch“, sondern dieselben, die sich alle Eltern für ihr Kind wünschen: eine stärkere emotionale Bindung, Lebensfreude, der Glanz in den Augen des Kindes, herzliche Beziehungen zu anderen, Kommunikation über Gesten und verständliches Sprechen, Einbindung in sinnvolle Aktivitäten, kreative Persönlichkeitsentwicklung. Um diese Ziele zu erreichen bietet das DIRFloortime Modell ausdifferenzierte Strategien, Techniken und Aktivitäten. Ziel ist es mittels positiver Emotionalität und regelmäßigen interaktiven 1-1 Spieleinheiten (oft, aber nicht unbedingt, auf dem Fußboden (floor)), Beziehungen aufzubauen und die ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung des Kindes zu fördern.

Der Führung des Kindes folgen und ihm gleichzeitig helfen, die Entwicklungsleiter hochzuklettern

Indem wir den natürlichen emotionalen Interessen des Kindes folgen (ihm also die Führung überlassen), während wir es gleichzeitig herausfordern unter Einsatz von Emotionalität und spielerischer Interaktion und fortlaufenden „Kommunikationskreisen“, leiten wir das Kind an, in Beziehung zu treten und zunehmend Gebrauch von seinen intrinsischen sozialen, emotionalen und intellektuellen Fähigkeiten zu machen. Denn das menschliche Gehin, d.h. JEDES menschliche Gehirn,  ist darauf angelegt, sich zu verändern und zu lernen.

 Das DIRFloortime Modell gibt uns eine äußerst hilfreiche „Landkarte“ für die Entwicklung eines Kindes an die Hand, die uns eine klare Orientierung und Richtung aufzeigt. Diese Entwicklungsleiter besteht aus 6 funktionalen emotionalen Entwicklungsebenen, die die meisten Kinder mit 4 Jahren bewältigt haben. Aber Kinder mit Autismus, autistisch-ähnlichen oder autistischen Zügen haben hier Schwierigkeiten und Aufholbedarf.

Funktionalen Emotionalen Entwicklungsebenen/ -kapazitäten (FEDLs/ FELCs)

Die gesunde mental-emotionale Entwicklung eines Kindes baut sich auf aus

FEDL 1:              Fokussieren, Aufmerksamkeit teilen, sich selbst regulieren um an der Umwelt mit                             Interesse teilzunehmen

FEDL 2:             Sich auf andere Menschen einlassen und liebevoll mit ihnen in Beziehung treten

FEDL 3:              Interaktion initieren, beidseitige gestische Kommunikation, Imitieren, Nachahmen

FEDL 4:              Komplexes gemeinsames kreatives Problemlösen mit Hilfe von gestischer                                             Kommunikation, erste Worte

FEDL 5:              Erlebtes symbolisieren mit Hilfe von Phantasie, Bildern und Sprache

FEDL 6:              Brücken bauen zwischen Ideen, logisches sowie emotionales Denken, Geschichten                            erzählen, Realitätssinn

Ein ganzheitliches Menschenbild

Das diesen Ideen zugrundeliegende ganzheitliche Menschenbild geht von universalen, den Menschen grundsätzlich ausmachenden Anlagen und Potentialen aus, die in jedem Menschen entwickelt werden können, unabhängig von seiner Behinderung, Beeinträchtigung oder Diagnose.

Hierin unterscheiden sich beziehungs-orientierte Ansätze fundamental von den behavioristischen Methoden, die im Grunde davon ausgehen, daß Autismus ein physischer Defizit oder als biologischer Defekt ‚angeboren‘ sei, und Therapie deswegen nur angepasstere Verhaltensweisen antrainieren und störende Symptome modifizieren könne.

Im Unterschied hierzu basiert das DIR Modell auf der Annahme, daß Gefühle und emotional stimmige Beziehungen grundlegend sind für alle folgenden Entwicklungen eines Kindes, einschließlich Sprache, Kognition, Spiel, Lernen, soziales Verhalten.

Über diese positive, dynamische und spielerische Herangehensweise definieren wir Autismus neu: nämlich als Entwicklungsstörung mit oft guten Aussichten auf Wachstum und positive Veränderungen. Mit Hilfe des DIR-Modells, das die allgemeine mental-emotionale Entwicklung des Kindes anhand von Funktionalen Emotionalen Entwicklungsebenen (FEDLs) beschreibt, bringt sie Licht in das Dunkel der rätselhaften Symptome. Bei dieser Methode versucht man, sich in die Welt des Kindes einzufühlen und es über seine Interessen ‚abzuholen‘ und in eine gemeinsame Welt zu geleiten und ihm zu helfen, ‚die Entwicklungsleiter hinaufzuklettern‘. Es geht es darum, das Kind auf seinem aktuellen Entwicklungsstand liebevoll anzunehmen und seine Stärken zu fördern, um ihm zu helfen, auch seine Schwächen zu meistern. Denn Beziehungsfähigkeit ist die Grundvoraussetzung, damit sich weitere kognitive, soziale, emotionale, sprachliche und motorische Fertigkeiten sowie die Selbstwahrnehmung zu ihrem vollen menschlichen Potential ausbilden können.

Evidenz-basierte Behandlungsmethoden für Autismus:

Trotz Hunderten von Studien zur Verhaltenstrainingsmethode ABA (Applied Behaviour Analysis/ Lovaas), die traditionell als die einzige effektive Evidenz-basierte Behandlungsmethode für Autismus gilt, basiert diese Überzeugung auf nur 4, und in Wirklichkeit auf nur 3 Studien zu ABA, die die Kriterien erfüllten, um in eine meta-analytische Publikation jüngeren Datums aufgenommen zu werden (eine der 4 Studien war eine follow-up Evaluation mit denselben Daten). In einer jungsten Rezension (2018) zu evidenz-basierten Interventionen für Kinder und Adoleszente mit Autismus, weist Dr. R. Solomon darauf hin, daß der Rest all dieser vielen ABA-Studien sich durch schwaches Design und follow-up, schwache Methodologie, zu kleine Stichproben und mangelnde externe Validität auszeichnet. Die ursprüngliche Studie zu ABA von Lovaas entsprach nicht den Anforderungskriterien für eine rigorose Studie und wurde wegen mangelnder Randomisierung, systematischer Fehler bei der Gruppenverteilung und den Werten der Outcomes von der Meta-analyse ausgeschlossen.

Gemäß der amerikanischen National Academy of Sciences gibt es keine nachgewiesenermaßen regelmäßig erfolgreiche Autismusbehandlungsmethode und das National Institute of Mental Health (NIMH) stellt fest ‚There is no single best treatment package for all children with ASD‘ (2009).

In verschiedenen Rezensionen von RCT-Forschungsarbeiten (Randomised Control Trials) zu DIRFloortime kommen ForscherInnen zunehmend zu dem Ergebnis, daß DIRFloortime und ‚von Eltern implementierte‘ beziehungs-orientierte Entwicklungsansätze zu den evidenz-basierten Praxisansätzen gehören. Außerdem verbessern beziehungs-orientierte Behandlungsansätze wie DIRFloortime die Kerndefizite von Autismus, z.B. soziale und emotionale reziproke Beziehungen, spontanes Initiieren von Konversationen. Im Gegensatz hierzu befand die Metaanalyse, daß ABA ‚nicht zu signifikanten Verbesserungen in kognitiven, Sprach- oder adaptiven Verhaltensoutcomes verglichen mit normaler Betreuung führte‘.

In 3 neueren Studien fanden J. Mercer (2015), Odom et al. (2014) sowie Pajareya et al. (2011), daß sich bei zusätzlichen ‚von Eltern implementierten‘ DIRFloortime Interventionen zuhause 1-2 Stunden/Tag für 4 Monate statistisch signifikante und klinisch bedeutsame Verbesserungen zeigen liessen.

In allen neueren Rezensionen von randomisierten Kontrollstudien sind durchgehend die folgenden methodologischen Werte (measures) der ‚von Eltern implementierten‘ beziehungs-orientierten Entwicklungsmodelle zu erkennen:

  1. Sie sind alle vorrangig Kind-zentriert und non-direktiv, ohne konditionierendes Verhaltenstraining oder fertige Unterrichtsprogramme
  2. Die Auswirkungen werden operationalisiert als: interaktiv, funktional, Sprache, soziale Entwicklungsfortschritte. Empirisch gemessen machen Kinder mit ASS klinisch und statistisch signifikante Fortschritte in verschiedenen gemessenen Gebieten
  3. Programme, die ‚intensive Frühförderung‘ anbieten mit mehr Stunden/Woche von DIR-Intervention scheinen effektiver zu sein als solche mit weniger Stunden. ‚Intensiv‘ = mindestens 10 Stunden/Woche von emotional-einbeziehender 1-1 Interaktion, die beiden Spaß macht. ‚Frühförderung‘ = Interventionen so früh wie möglich für Kinder mit ASS (von 18 Monaten bis 6 Jahren)
  4. Konstante outcomes von verbesserten interaktiven/sozialen Fähigkeiten der Kinder mit ASS; verbesserte interaktive Fähigkeiten der Eltern mit ihrem Kind effektiv in Beziehung zu kommen; verbesserte Ergebnisse für die Entwicklung von verschiedenen sozialen, Sprach- und Entwicklungsbereichen

Eine ABA-Verhaltenstherapie umfaßt üblicherwiese 30-40 Stunden/Woche intensiver 1-1 Intervention mit Kosten von $30000 – 60000 pro Jahr/Kind. Bei den heutigen Diagnosezahlen für Autismus ist dies finanziell für Kostenträter vollkommen untragbar. Im Gegensatz hierzu kosten ‚von Eltern implementierte‘ beziehungs-orientierte Methoden wie DIRFloortime mit ca $ 2500 pro Jahr/Kind nur einen Bruchteil davon, denn die Eltern sind ein zentraler Teil des therapeutischen Angebots ihrem Kind zu helfen. Das wiederum hilft auch den Eltern, und der ganzen Familie. Und den öffentlichen Finanzen. Ein Beziehungsangebot also, das für alle Beteiligten passt!

Bibliographie:

Greenspan, Stanley (2001)           Mein Kind lernt anders. Walter Verlag

Greenspan, Stanley (2009)           Engaging Autism. Merloyd Lawrence Publishers

Janert, S. (2016)                                Autistischen Kindern Brücken bauen. Reinhard Verlag

Lovaas, O.J. (1987)                           Behavioral treatment and normal educational and intellectual                                                                  functioning in young autistic children. Journal of Consulting and                                                                Clinical Psychology, 55, 3-9

Mercer, J. (2015)                               Examining DIRFloortime as a treatment for children with autism                                                              spectrum disorders. A Review of Research and Theory. Res Soc                                                                  Work  Pract, 27(5), 1-11

National Research Council (2001) Educating children with autism. National Academy Press

Pajareya et al. (2011)                     A pilot randomised controlled trial of DIRFloortime parent                                                                         training  intervention for pre-school children with autistic                                                                           spectrum disorders. Autism, 15 (2), 1-15

 Solomon, Rick (2016)                      Autism: The Potential Within. Lulu Publishing

Solomon, Rick (2018)                      Commentary: Evidence-based interventions for children and                                                                     adolescents with autism spectrum disorders. In: Curr Probl                                                                       Pediatr Adolesc Health Care

 Spreckley, M. et al. (2009)            Efficacy of Applied Behavioural Intervention in preschool                                                                           children  with autism for improving cognitive, language and                                                                       adaptive behaviour: a Systematic Review and Meta-analysis. The                                                              Journal of Pediatrics. 154(3): 338-344

 

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