Gemeinsames Problemelösen: Jede Interaktion – eine gute Interaktion!
Wenn wir einem Kind die Entwicklungsleiter hochhelfen wollen, dann sind Probleme unsere besten Freunde und Helfer! Nachdem wir vorhin Bruno’s geliebte Buchstaben in ein Schraubverschlußglas getan hatten, würde ich jetzt mit großer übertriebener Anstrengung (aber erfolglos) versuchen, das Glas aufzumachen. ‚Oh nein! Die Buchstaben sind alle in diesem Glas! Und ich krieg den Deckel nicht auf!‘ Wir können uns vorstellen, daß Bruno seine Mutter fassungslos ansehen würde (bisher hat sie ja immer alles sofort für ihn gemacht!), als sie ihm das Glas reicht, – und dann seinerseits versuchen es aufzumachen. Aber er schafft es nicht. ‚Oh je! Du kriegst es auch nicht auf? Was machen wir denn jetzt?‘ Wenn wir jetzt nichts machen und erwartungsvoll warten, wird Bruno das Glas nehmen, und es vielleicht schütteln. ‚Ja, das ist ja eine gute Idee! Darf ich auch mal schütteln? Vielleicht kriegen wir ja dadurch die Buchstaben raus!?‘, würde seine Mutter vielleicht sagen. Und ‚Oh nein. Geht immer noch nicht! Puh! Wie blöd ist das denn!? … Oh, jetzt haust du mal drauf. Ja, es ist wirklich frustrierend. Darf ich auch mal draufhauen? (und somit verhindern, daß es kaputt geht;-)!). Vielleicht hilft ja draufhauen?!‘ Wahrscheinlich aber nicht;-)! Wenn wir dramatisch und spielerisch genug sind, dann hat ein Kind wie Bruno vielleicht inzwischen schon Spaß am gemeinsamen Quatsch machen gefunden. Und daran seine Umwelt gemeinsam mit seiner Mutter und mit Hilfe seiner Hände zu erkunden, – auf ihm bisher unvertraute Weise. Man könnte das Glas vielleicht noch auf den Kopf stellen (‚Oh, das klappert ja ganz schön! Aber der Deckel geht immer noch nicht auf.‘) oder hin und her rollen (‚Achtung! Jetzt kommt das Glas zu dir gerollt! Bumm. Und jetzt zu mir! Auf die Plätze – fertig – Los!‘), die Buchstaben sprechen lassen ‚Hey Bruno, ich bin das B! Ich will hier raus! Mach doch endlich mal auf!‘ … oder was einem sonst noch im Sinne von ‚Thema und Variationen‘ einfällt, um das letztendliche Aufmachen herauszuzögern. Vorrausgesetzt natürlich, es ist lustig und macht beiden Spielpartnern Spaß! Kurz bevor das Kind seine Frustrationsgrenze erreicht und ausrastet, schaffen wir es natürlich doch, das Glas aufzumachen, und voller Erleichterung seine Buchstaben zu befreien! Denn es geht uns ja gerade NICHT darum, dem Kind beizubringen, wie man ein Glas aufmacht! Je länger das Glas zubleibt, desto länger haben wir ein gemeinsames Problem, und helfen so dem Kind, sozial zugewandt zu bleiben und seine Beziehungsfähigkeiten zu stärken.
Anhaltspunkte um die Interaktion im Fluß zu halten
- Aufmerksamkeit und Emotionalität koregulieren, d.h. dem Interesse des KINDES folgen
- emotionale Beteiligung aufrechterhalten, d.h. das KIND initiieren lassen
- auf wechselseitige Interaktion achten, d.h. zusehen, daß das KIND so viel macht wie möglich, und der Erwachsene so wenig wie möglich, und nur so viel wie unbedingt nötig macht
Was soll der Quatsch!?
So fragt vielleicht der Leser. Oder die Mutter. Aber nicht Brunos Mutter. Die lacht und meint ‚Hm. Ist das wie Floortime geht? Ja, solchen Quatsch macht Bruno schon auch. Aber ich hab ihn immer dafür geschimpft, weil ich dachte, ich muß ihm vor allem Sprechen beibringen und daß er sich anständig benehmen soll. Ob er wohl deswegen lieber alleine mit den Buchstaben spielt?‘ Das Quatsch-machen hat in der Tat eine wichtige Funktion, wenn es uns darum geht, ein zurückgezogenes oder nicht sozial zugewandtes Kind in freudige gemeinsame Interaktion zu locken. Wenn es dem Kind Spaß macht, dann brauchen wir nur anzuhalten … und erwartungsvoll zu warten, bis es uns ein Zeichen gibt, daß wir weitermachen sollen. Indem wir auf spielerisch hinderliche Weise ein sichtbares Problem geschaffen haben (wir erinnern uns, daß Bruno sehr visuell ist!), so daß ihm seine Buchstaben nicht direkt zugänglich sind, konnten wir eine perfekte Situation schaffen, um mit dem Kind auf FEDLs 1-4 zu arbeiten und gemeinsame Aufmerksamkeit, Interesse an der Umwelt, soziale Zugewandtheit und spontanes Initiieren von Seiten des Kindes, sowie sogar seine Problemlösefähigkeiten zu fördern und zu konsolidieren. Was wir hier auf spielerische Weise mit dem Kind üben, ohne daß das Kind es als ‚Üben‘ empfindet, ist ein länger andauerndes Hin und Her von Kommunikationskreisen, einschließlich Blickkontakt und gestischer non-verbaler Interaktion und zunehmender Frustrationstoleranz. Hierzu ist gemeinsames Quatsch-machen hervorragend geeignet!
‘Wenn Sie und ihr Kind Spaß miteinander haben, dann machen Sie etwas richtig! Spaß ist die “Zauberformel” für Erfolg mit dieser Methode. Wenn Kinder immer wiederr positive Interaktionen mit ihren Eltern oder Betreuern erleben, dann werden sie mehr davon wollen! Und schon wird das Kind lieber mit Ihnen spielen als alleine mit seinem Lieblingsspielzeug.’ (Dr. Rick Solomon)
Ja, ich verstehe. Es geht nicht darum, ihm beizubringen ein Glas aufzumachen, sondern um ihn aus seiner abgeschotteten Isolation heraus und in ein freudiges Miteinander zu locken‘, sagt Brunos Mutter. ‚Ich kann dann dasselbe ja auch beim Anziehen machen, oder mit anderen Dingen.‘ Ja, z.B. die Hose auf den Kopf setzen oder die Strümpfe auf die Hände! Und versuchen solche alltäglichen Interaktionen so lang wie möglich in die Länge zu ziehen, so daß das Kind so lange wie möglich sozal zugewandt und in einem freudigen emotionalen Kontakt bleibt. Natürlich braucht man dafür genügend Zeit und Muße. Also, nicht morgens vor dem Kindergarten, wenn alle unter Streß sind. Es sei denn, man steht eine halbe Stunde früher auf, und packt noch eine halbe Stunde hochwertiges Interaktionspiel in die Morgenroutine mit ein. Denn, ‚auf die Dosis kommts an!‘ (Dr. Rick Solomon), d.h. je mehr, desto besser! Immerhin versuchen wir so etwas wie einen schwachen ‚Interaktionsmuskel‘ zu stärken! So etwas passiert nicht automatisch und ohne sich anzustrengen und darum zu bemühen.
Wenn wir also auf kreative Weise Bruno‘s Buchstabeninteresse mit unserem Interesse an gemeinsamer Interaktion verbinden, dann kann uns ein ziemlich langes Hin und Her von Kommunikationskreisen miteinander gelingen, in der das Kind reguliert und mit Interesse an der Welt versucht in Beziehung mit einem anderen Menschen, also sozial zugewandt, sein Buchstabenproblem zu lösen. Das gemeinsame Problem ist unser Vehikel und hält uns zusammen, was es dem Kind ermöglicht aus eigener Initiative immer länger im emotionalen Kontakt mit einem andern Menschen zu bleiben. Denn Probleme sind unsere Freunde! Sobald er die Buchstaben hat, ist Bruno wahrscheinlich wieder allein in seiner Welt. Und die Mutter auch.
Auszug aus der erweiterten 4. Auflage von Sibylle Janert’s Buch: Autistischen Kindern Brücken bauen. Vierte erweiterte Auflage, Reinhard Verlag 2020 Hier bestellen