Wer an Sprache und Lernen denkt, stellt sich meist ein sprechendes Kind und das Gehirn als Zentrum der Entwicklung vor. Doch diese Sichtweise greift zu kurz. Tatsächlich liegt der Ursprung der menschlichen Intelligenz nicht isoliert im Kopf, sondern beginnt mit der Entwicklung der Hand: seit den Anfängen der Menschheit hat die gezielte Nutzung der Hände das Gehirn geformt, – jede Bewegung, jeder Griff und jede Berührung legt das Fundament für Sprache, Denken und Kreativität.

 

Der Ursprung der menschlichen Intelligenz liegt nicht im Gehirn, sondern im Gebrauch der Hand

Unsere Hände sind nicht nur Werkzeuge, – sie sind ein Motor der menschlichen Entwicklung. Lange bevor es Worte gab, formten ungeplantes Tun und gezielte Handlungen das Denken, schufen Verbindungen im Gehirn und eröffneten neue Möglichkeiten, mit der Welt in Beziehung zu treten. In der Evolution wuchs das menschliche Gehirn nicht isoliert, sondern im Wechselspiel mit der Hand.

Der sich daraus ergebende vermehrte Werkzeuggebrauch verlangte Kooperation und Kommunikation, um Wissen zu teilen, wodurch sich Gehirnstrukturen für Planung, Sprache und komplexes Denken entscheidend erweiterten. Im Verlauf der menschlichen Evolution entstanden auf diese Weise zwei raffinierte Strategien, um komplexe Probleme zu lösen und die Umwelt aktiv zu gestalten, die einzigartig für den Menschen sind.

1.   Werkzeuggebrauch: viele verschiedene Werkzeuge für unzählige Zwecke und Funktionen. Menschen können viele verschiedene Werkzeuge entwerfen, herstellen und benutzen, – vom Hammer über den Hebel bis hin zu komplexen Schneidewerkzeugen oder modernen technischen Geräten und Maschinen. Durch die Vielfalt an Werkzeugen und ihre flexible Nutzung kann der Mensch unzählige Aufgaben bewältigen und Probleme kreativ lösen.

2.   Sprache: viele verschiedene Kommunikationsweisen, nicht nur verbal. Sprache ist so viel mehr als nur gesprochene Worte. Sie umfasst eine Vielzahl von Kommunikationsformen, basierend auf emotionalen und formalen Systemen abstrakter Codes und Symbole, einschließlich einer universellen non-verbalen Körpersprache aus Mimik, Gesichtsausdruck, Gesten und Gebärden. Menschliche Sprache erfordert kooperative Beziehungen, den Austausch von Informationen und das Teilen kultureller Kontexte anhand eines gemeinsamen „Ver- und Entschlüsselungsplans“, d.h. die Fähigkeit, Bedeutungen zu verstehen und zu vermitteln.

Heute jedoch ist der Ursprung menschlicher Intelligenz und Sprache in der versierten Benutzung der Hände weitgehend in Vergessenheit geraten. Moderne Kindheitspädagogik und Schulsysteme schenken den Händen weit weniger Raum, als es für eine gesunde kognitive, soziale und emotionale Entwicklung für Lernen, Beziehungsaufbau und Sprache notwendig wäre, insbesondere um Kinder mit Entwicklungsverzögerungen oder Lernbehinderungen effektiv zu unterstützen.

 

Manuelle Intelligenz: vom Tun zum Denken und Handeln

Diese beiden Strategien spiegeln sich auch in der kindlichen Entwicklung: denn dem sprachlichen Verstehen geht stets ein primäres, nonverbales Verstehen voraus. Dieses entwickelt sich vor und unabhängig von Sprache, wie Geoffrey Waldon beobachtete, gespeist aus vielfältigen körperlichen Erfahrungen, sensomotorischen Erkundungen und dem direkten Umgang mit der Umwelt. Erst wenn ein Kind diese mentalen „Werkzeuge“ des nonverbalen Verstehens durch das Erkunden seiner Welt beherrscht, kann es die Werkzeuge der verbalen Sprache verstehen und sinnvoll einsetzen.

Der gezielte Einsatz der Hände, also das Greifen, Erforschen, Manipulieren und Gestalten von Dingen, ist kein nebensächlicher motorischer Meilenstein, sondern eine zentrale Kraft, die das Denken überhaupt erst möglich macht, und machte. Die „schlauen Hände“, oder die manuelle Intelligenz, stehen in direktem Zusammenhang mit kognitiver und sprachlicher Entwicklung. Sprache ist somit kein rein sprachliches Phänomen, sondern ein Ergebnis des Zusammenspiels zwischen Bewegung und aktiven Erfahrungen im Zusammenspiel mit der Wahrnehmung von Mustern, Beziehungen und Symbolverständnis.

Dieses frühe, nonverbale Verstehen ist untrennbar mit den körperlichen und sensorischen Grundlagen der Entwicklung verbunden. Bevor Kinder Sprache oder komplexe Werkzeuge einsetzen können, müssen sie lernen, ihren Körper gezielt zu steuern, Bewegungen zu koordinieren und Sinneseindrücke zu verarbeiten.

Wenn Entwicklung mehr Begleitung braucht: Genau hier zeigen sich bei vielen Kindern mit besonderen Bedürfnissen, Autismus oder autistisch-ähnlichen Verhaltensweisen, häufig erste Unterschiede in sensorischer Regulation, Körperwahrnehmung und motorischer Planung, – primäre Herausforderungen, die das Fundament, auf dem alle späteren kognitiven, sprachlichen und sozialen Fähigkeiten aufbauen, schwerwiegend beeinträchtigen können.

 

Die Hand: der erste Lehrer des Gehirns

Der Mensch besteht aus einem Körper, einem Kopf und 4 Gliedmaßen. Unsere Beine ermöglichen uns die Fortbewegung und tragen uns wie ein zuverlässiges Transportmittel durch die Welt, – sie sind fast wie unser Pferd, das uns überall hinbringen kann. Darüber reitet sozusagen unser menschlicher Teil: unser Körper mit Herz und Kopf mit vielen unserer Sinne, und unsere Hände, die sich am Ende einer komplexen biologischen Art von Kran aus Schulter, Oberarm, Ellbogen, Unterarm und Handgelenk befinden. Damit stellt die Hand das letzte Glied eines biologischen Aufrichters dar, der unsere Hand präzise im Raum platzieren, stabilisieren und dorthin bewegen kann, wo wir sie haben wollen, damit sie tut, was wir von ihr erwarten, wie Nehmen, Halten, Heben, Drehen, Ziehen und feinste Justierungen, oft unbewusst und hochkoordiniert.

Unsere Hände können und tun so viel für uns: berühren, greifen, fühlen, halten, manipulieren, streicheln, aber auch schieben, ziehen, streicheln, schaufeln und tragen. Sie können winken, zeigen und Gesten oder Zeichen machen. Wir benutzen unsere Hände, um zu tasten, zu fühlen und zu spüren, ob etwas rau oder glatt, heiß oder kalt, scharf oder stumpf ist. Wir halten die Hand eines Kindes, wenn wir die Straße überqueren. Wir streicheln einen geliebten Menschen. Unsere Hände spielen eine wichtige Rolle dabei, wer wir sind und wie wir uns selbst sehen.

Evolutionsgeschichtlich war der aufrechte Gang auf zwei Beinen ein riesiger Wendepunkt: Er befreite die Hände von ihrer Fortbewegungsfunktion und öffnete den Weg zu Werkzeuggebrauch, Gestik und komplexer Interaktion mit der Umwelt und Kommunikation mit anderen Menschen. In unserem Großhirn ist ein überproportional großer Bereich für die Steuerung und Wahrnehmung der Hände reserviert. Zusammen mit dem Mund besitzen die Hände, und vor allem die Fingerspitzen, die höchste Dichte an Rezeptoren, – kein anderer Körperteil liefert so viele präzise Sinnesinformationen.

Wenn Entwicklung mehr Begleitung braucht: Manche Kinder sind ständig auf den Beinen und in Bewegung, laufen unermüdlich herum und kommen kaum dazu, mit den Händen etwas zu tun. Für ihre Entwicklung ist es entscheidend, die Aufmerksamkeit in die Hände zu lenken. Durch Greifen und aktives Tun eröffnen sich neue Wege des Lernens. Diese Kinder brauchen daher gezielte Begleitung, ihre Bewegungsenergie von den Beinen in ihren Kopf und ins Tun mit den Händen zu verlagern, um den Weg für Konzentration, Sprache und Denken zu bereiten.

 

Reichweite und räumliches Bewusstsein 

Wir können unsere Hand auch über ihre normale Reichweite hinaus ausstrecken, indem wir unsere Schulter und unseren Arm nach vorne strecken, oder uns nach vorne strecken, um etwas zu greifen, das außerhalb unserer körpernahen Reichweite liegt, oder wir können uns zurücklehnen, um weit hinter uns zu greifen. Es gibt Gelegenheiten, bei denen wir unsere Hand hinter den Kopf führen müssen, z. B. wenn wir uns die Haare bürsten, oder uns herunterbeugen und die Hände zum Fuß führen müssen, um unsere Schuhe an- oder auszuziehen.

 

Die Hand als universales Werkzeug

Tatsächlich ist die menschliche Hand selbst das erstaunlichste Werkzeug, und zwar genau deshalb, weil sie so unspezialisiert ist und wir sie genau deshalb auf so viele Arten für eine unendliche Vielfalt komplexer Aufgaben einsetzen können. Mit ihrem opponierbaren Daumen kann eine Hand große und kleine Gegenstände aufheben und schwere oder komplizierte Werkzeuge handhaben. Unsere Hände können grobe Kraftarbeit leisten, wie Holz hacken, schwere Lasten tragen, mit einer Schaufel graben, eine Axt schwingen, mit einem Presslufthammer Beton durchbohren oder mit einem Vorschlaghammer einen Eisenbahnpfosten einschlagen, oder auch mikroskopisch präzise Bewegungen ausführen, wie einen Faden in ein Nadelöhr einfädeln, Geige spielen oder eine Zahnwurzelbehandlung vornehmen. Diese Universalität ist möglich, weil die Hand nicht auf eine Funktion spezialisiert ist, sondern sich durch Erfahrung immer neue Fähigkeiten aneignen kann. Das zentrale Prinzip lautet: Es gibt fast nichts, das eine Hand nicht lernen kann, – vorausgesetzt, sie bekommt die Gelegenheit, es ausgiebig zu üben.

 

Mit den Händen sprechen

Die Entwicklung der Hand ist so eng mit der Entwicklung des Gehirns verwoben, dass früh in der Menschheitsgeschichte der gezielte Einsatz der Hände zu bewusster Wahrnehmung und differenziertem Denken führten. Werkzeuge herzustellen oder zu benutzen, erforderte nicht nur Geschick, sondern auch Kooperation und Kommunikation, anfangs anhand von nonverbaler gestischer Kommunikation, die sich allmählich zu verbaler symbolischer Sprache entwickelte.

Unsere Hände wechseln ständig zwischen exekutiven (etwas herstellen oder verändern), explorativen (erkunden, ertasten) und expressiven (gestisch, künstlerisch, kommunikativ) Aktivitäten. Sie gestalten nicht nur unsere kognitive Entwicklung, sondern beeinflussen auch unsere Gefühle und Beziehungen, Sprache und Kreativität. Wenn ein Kind baut, sortiert, formt, streichelt oder Zeichen malt, trainiert es nicht nur Motorik und Wahrnehmung, sondern auch die neuronalen Netzwerke, die später für Sprache und symbolisches Denken entscheidend sind.

 

Sprechen lernen beginnt mit non-verbaler Gestik

Auch die Sprachentwicklung eines Kindes beginnt nicht mit gesprochenen Wörtern, sondern mit Gesten und Handzeichen. Zeigen, winken, geben und nehmen sind die ersten „Sätze“ eines Kindes, -nonverbale Akte, die das Fundament für verbale Kommunikation legen. Die Hände sind somit der konkrete Vorläufer und zugleich das Bindeglied zwischen Tun und Sprache. So wie wir unsere Hände auch benutzen, um einander je nach unserer Kultur zu begrüßen, z. B. durch Händeschütteln, Zusammenlegen der Hände, Berühren der Fäuste, High-5 usw. Wenn wir uns unterhalten, sind unsere Hände ein wichtiger Teil dessen, wer wir sind und was wir sagen, und die meisten Menschen benutzen ihre Hände beim Sprechen.

 

Die Hand spricht zum Gehirn so wie das Gehirn zur Hand

Schon früh zeigt sich, wie eng die Entwicklung von Sprache und motorischer Kompetenz miteinander verknüpft sind. Wenn ein Kind lernt, Dinge gezielt zu greifen, sie zu drehen, fallen zu lassen oder ineinanderzustecken, beginnt es gleichzeitig, Bedeutungen zu erfassen: „Was passiert, wenn ich das tue?“ Das Kind stellt erste Hypothesen über Ursache und Wirkung auf, entwickelt ein Verständnis für Kategorien, Funktionen und Unterschiede, d.h. die Grundlagen für jedes spätere Sprachverständnis.

Auf diese Weise entsteht eine gegenseitige Verstärkung zwischen der sensomotorischen Erfahrung, dem gezielten Handeinsatz und der Entwicklung von Sprache und Denken. Dieser Zusammenhang wird durch neuere neurowissenschaftliche Erkenntnisse über die Hand-Hirn-Verbindung bestätigt: Der Gebrauch der Hände aktiviert dieselben Gehirnregionen, die auch für symbolisches Denken, Repräsentation und Sprachverarbeitung zuständig sind (Gallese & Lakoff, 2005; Pulvermüller, 2005; Rizzolatti & Sinigaglia, 2010). Zudem zeigen entwicklungspsychologische Studien, dass motorische Erfahrungen und die frühe Handlungsfähigkeit eng mit dem Spracherwerb verknüpft sind (Iverson, 2010). Es ist daher höchste Zeit, die Vorstellung zu überwinden, dass Intelligenz und Lernen mit Erklärungen oder Worte beibringen beginnen: Intelligenz und Lernen, sowie verbale Sprache, beginnen mit Beziehung, Bewegung, – und mit den Händen.

Neurowissenschaftlich ist diese Verbindung deutlich darin ersichtlich, dass Hände und Gesicht gemeinsam große Areale im sensorisch-motorischen Kortex einnehmen, denn beide sind Schlüsselinstrumente für Kommunikation. Hände und Gesicht beanspruchen zusammen fast die Hälfte der verfügbaren „Gehirnkarte“ im somatosensorischen und motorischen Kortex.

Was das bedeutet:

  • Hände sind nicht nur Werkzeuge, sondern hochsensible Antennen.
  • Jede Bewegung, und jede Berührung, trainiert riesige neuronale Netzwerke.
  • Tätigkeiten mit den Händen wirken wie „Gehirnjogging“, besonders in der frühen Kindheit.

 

Die Bedeutung des Greifens für die kognitive Entwicklung

Das Greifen ist eine der ersten und wichtigsten Fähigkeiten, die ein Kind erlernt. Es bildet die Basis für komplexere kognitive und motorische Fertigkeiten und ist entscheidend für die Entwicklung von Wahrnehmung, Feinmotorik und späterem Lernen, einschließlich verstehen und sprechen lernen. Durch das aktive Greifen lernt das Kind nicht nur, seine Umwelt über sensorisch-motorische Erfahrungen gezielt zu erkunden und zu begreifen, sondern es beginnt auch, Ursache und Wirkung, Größe und Form sowie Raum und Zeit zu verstehen. Diese Erfahrungen bilden die Basis für die Entwicklung von komplexeren Denk- und Handlungsabläufen.

Die menschliche Hand zeigt dabei ein beeindruckendes biomechanisches Bewegungs- und Kontrollrepertoire von feinsten Einzelbewegungen bis hin zum kraftvollen Zupacken. Darüber hinaus sind unsere Hände sehr tastempfindlich: Sie können kleinste Unterschiede in Oberflächen und Formen wahrnehmen und erlauben uns so eine differenzierte Erkundung der Welt. Eine weitere menschliche Besonderheit ist die Beweglichkeit von Schulter und Oberarm, die es ermöglicht, dass jede Hand nahezu jeden Punkt innerhalb eines gedachten Kreises erreichen kann, dessen Mittelpunkt die bewegliche Schulter ist. Diese Beweglichkeit führt zu einer komplexen räumlichen Repräsentation der Arme und Hände im Gehirn und fördert so das räumliche Denken und die Koordination.

Wenn Entwicklung mehr Begleitung braucht: Manche Kinder sind sehr berührungsempfindlich, und autistische Kinder nutzen ihre Hände häufig primär zum Tasten und Spüren von Oberflächenbeschaffenheiten, d.h. sie bleiben dann manchmal an ihrem sensorischen Interesse hängen: dem Befühlen und vorhersagbaren, häufig rhythmischen, Spüren sensorischer Aspekte ihrer Umwelt, wie eine Art Streicheln mit Haut, Augen oder Ohren, und brauchen unsere Hilfe, um neue senso-motorische Erfahrungen mit ihren Händen machen, Muster erkennen und verschiedene Elemente miteinander verbinden zu lernen.

Dies ist ein kleiner Auszug aus meinem neuen Buch ‚Mit autistischen Kindern lernen zu lernen: Vom Greifen zum Begreifen‘, das im Herbst 2026 veröffentlicht wird.

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