Oft werden wir mit herausfordernden Verhaltensweisen konfrontiert, zum Beispiel wenn ein Kind sehr kontrollierendes Verhalten zeigt und einfach nicht mit etwas aufhören oder auf seinem Willen bestehen will. Traditionelle Methoden mit rationalen Erklärungen an den Verstand des Kindes zu appellieren oder Gehorsam, manchmal unter Androhung von Strafen oder sogenannten Konsequenzen, zu verlangen führen selten zum erwünschten Erfolg. Warum ist das so? Warum kann das Kind nicht einfach machen, was ihm gesagt wird?

Hier ist es hilfreich als erstes zu beobachten, in welchem physiologischen Zustand sich das Kind gerade befindet und insbesondere, wie sicher es sich fühlt, was sich kurz als zur schnelleren Orientierung als ‚grün-rot-blau‘ zusammenfassen läßt:

  1. im grünen Bereich fühlt sich das Kind sicher und von freundlichen Menschen unterstützt, mit der Welt verbunden und offen für neue Entdeckungen
  2. im roten Bereich fühlt sich das Kind verunsichert und irgendwie bedroht, so dass es sich schützen, verteidigen oder an irgendetwas festhalten muss, – zum Beispiel vielleicht an  Kontrollverhalten oder festgefahrenen Gewohnheiten
  3. im blauen Bereich fühlt sich das Kind verlassen und so hoffnungslos allein, dass es gar nicht mehr versucht, Kontakt mit einem anderen Menschen zu suchen oder Blickkontakt aufzunehmen, denn es erwartet von dort weder Unterstützung noch Verständnis dafür, wie schrecklich es sich fühlt, und hat sich zurückgezogen und zugemacht.

Befindet sich das Kind im roten oder blauen Bereich, dann sind alle seine Kräfte auf eine Art Selbstverteidigung gerichtet, was auch bedeutet, dass sein rationales Gehirn nicht verbunden ist mit seinem Tun und Denken. Sobald der Kipppunkt in der Mitte überschritten ist und das Kind sich im Stresszustand befindet, blockiert das autonome Nervensystem (ANS) jede Veränderung. In diesem Zustand ist kein Lernen möglich, nur Abwehr- und Selbstschutzverhalten, d.h. das Kind ist physiologisch nicht in der Lage,  rationale Erklärungen oder die menschliche Simme zu verstehen, oder wahrzunehmen, außer als weitere Angriffe auf sein Selbstgefühl und Bedrohung seiner Existenz. Für den Betreuer heißt dies, den Fokus auf Co-Regulation und Einfühlung zu legen, – und weniger, oder oft sogar am besten gar nicht zu reden, und auf jeden Fall Erklärungen und Fragen zu vermeiden.

Das Kind macht uns nicht absichtlich Stress, sondern es IST SELBER gerade gestresst und braucht von uns einfühlsame und co-regulierende Unterstützung.

Hierbei ist uns bewusst, dass das Kind sich ja nicht absichtlich ’schlecht‘ verhält, um uns herauszufordern, sondern ‚es passiert ihm‘ unbewusst, weil es sich in einem dysregulierten Stresszustand befindet und sich anhand seines autonomen (also unbewussten) Nervensystems zu schützen versucht. Mit diesem Verständnis können wir dann zu Stress-Detektiven werden, wenn wir uns von Verhaltensweisen herausgefordert fühlen und verstehen zum Beispiel, dass gerade kontrollierendes Verhalten bedeutet, dass das Kind sich unsicher und in irgendeiner Weise bedroht fühlt und sich durch Kontrollverhalten zu schützen versucht. 

Hier hilft ein reflektiver Check-in, um uns einzufühlen, wo sich das Kind mit seinem Nervensystem und seinem In-der-Welt-sein gerade befindet (und man selber natürlich auch) und darüber nachzudenken, wie man ihm durch Co-Regulation wieder zu einem Gefühl der Sicherheit verhelfen kann, so dass es für alle passt. Aber traditionelle Methoden wie Auszeit, Strefen, ‚Konsequenzen‘ und konventionelle Disziplinarmethoden führen nur dazu, dass das Kind sich noch weniger sicher fühlt, und sich entweder wehren oder zurückziehen muss.

Diese Erkenntnisse über die grundlegende Bedeutung des autonomen Nervensystems des Menschen basiert auf der Polyvagaltheorie von Stephen Porges und ist ein massiver Paradigmenwechsel, der uns hilft, Verhalten zu verstehen. Hierbei handelt es sich um eine bi-direktionale Theorie, wie Körper und Gehirn/Geist miteinander hin und her kommunizieren. Dies bietet uns ein neues optimistisches Organisationsprinzip, um autistisch-ähnliche Verhaltensweisen und Autismus neu zu verstehen: um ein Verhalten verstehen zu können, muss man erst den Körper und die menschlichen physiologischen Zustände verstehen.

Stephen Porges‘ innovative Forschung zum autonomen Nervensystem hat uns gezeigt, wie Menschen sich im Laufe der Evolution entwickelt haben, um mit Bedrohungen umzugehen. Seine Polyvagaltheorie zeigt uns, dass wir uns bei einer Bedrohung oder Gefahr zunächst an unser soziales Bindungssystem wenden, um wieder Sicherheit herzustellen (wir wenden uns vertrauten Personen zu). Wenn dies nicht unser Sicherheitsgefühl wiederherstellt oder wenn die Gefahr groß und unmittelbar ist, aktivieren wir unsere Kampf- oder Fluchtmechanismen. Wenn uns das nicht in Sicherheit bringt, führt dies zum Zusammenbruch von Körper und Geist, – wir machen zu und schalten ab. Menschen, die wiederholt die Erfahrung machen, dass soziales Engagement nicht dazu führen, sich in Sicherheit zu fühlen, reagieren automatisch mit Kampf/Flucht oder Rückzug/ Zumachen.

Hier eine bildliche Darstellung dieser emotionalen Zustände (mit deutscher Übersetzung):

1: Soziales Engagement (sich an vertraute Personen wenden): Kann sprechen, Beziehungen eingehen, sich selbst regulieren, selbst beruhigen und entspannt bleiben

2: Mobilisierung (Kampf/Flucht): Aktiv gegen die Bedrohung ankämpfen oder fliehen. Herzfrequenz steigt, der Körper ist kampfbereit

3. Immobilisierung (Kollaps): Rückzug, abgekoppelt von der Bedrohung und vom Körper, überwältigt. Herzfrequenz sinkt, Todstellreflex

Die Polyvagaltheorie ermöglicht es, ‘hinter die Diagnose’ von Autismus zu sehen und öffnet damit neue Türen für Umgang, Therapie und heilende Verfahren, denn sie verbindet viele der in autistischen Kindern beeinträchtigten Funktionen
a) ein reduziertes soziales Interaktionssystem
b) Flucht-Kampf (fight-flight) Verhalten oder
c) Rückzug, Abkoppelung und Zumachen (freeze/shut-down)

Autistisch-ähnliche Verhaltensweisen lassen sich so als Stressreaktion sehen. In manchen Kindern mit Autismus ist das System ‘Kampf – Flucht – Rückzug’ oft auf verschiedene Weise verstört, schaltet sich dauernd und unnötigerweise an, und das Kind hat im Sinne von Körpererfahrung zugemacht und sich in sich selbst zurückgezogen. In manchen sogenannten ‘Autisten’  wurde vielleicht im Säuglingsalter das Vagalsystem auf das Sicherheitssystem des Körpers umgeleitet und blieb der Fokus des sich entwicklenden KindesVielleicht ist das Kind als Baby in eine Kampf-Flucht-Erstarren Reaktion geraten und, in diesem jungen Alter dort steckengebliebenweil es nicht wußtewie man da wieder rauskomt? Was, wenn das Kampf-Flucht-Erstarren System zu lange an war? Das Kleinkind kann nicht lernen seine soziale Software zu steuernwährend sein Kampf-Flucht-Rückzug System auf Autopilot läuft wie ein herrenloses Pferd. (Holly Bridges in ihrem Buch: Reframe your Thinking around Autism).

Autismus ist vielleicht keine neurologische Störung an sich, sondern eine gelernte Reaktion des Körpers auf frühe Stress/Trauma-Erfahrungen? 

Hierzu ist es wichtig, sich bewußt zu machen, wie sich Trauma auf einen Menschen auswirkt. Denn ein traumatisierter Mensch

  • ist nicht in der Lage herauszufiltern, was wichtig und was nicht wichtig ist
  • hat ein Vorstellungsvermögen, das nur auf das eingeschrumpft ist, was passiert ist
  • ist unfähig zu lernen, denn er kann sich nicht vorstellen, daß es alle möglichen anderen Möglichkeiten gibt, einschließlich, daß auch er erfolgreich sein könnte:
  • er steckt fest, wie in einer Falle

Trauma kennt keine Entwicklung und keine Verbindung zum Davor und Danach. Es ist eine Insel.

 Um herausfordernde Verhaltensweisen und ‚grün-rot-blau‘ besser zu verstehen empfehlte ich die deutsche Übersetzung von Mona Delahooke’s Buch ‚Brain-Body Parenting‘.

Wenn du mehr über die Verbindung von von den Erkenntnissen der Polyvagaltheorie und Autismus wissen willst, und ein bisschen Englisch kannst, dann kann ich dir das Buch von Holly Bridges sehr empfehlen

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